Ein Klassentreffen ist ein Ritual wie die Festtage, Einschulungen, Verlobungen oder Hochzeiten – etwas , was viele kennen, was bestimmte  Verhaltensweisen einschliesst und ganz unterschiedliche Reaktionen hervorruft.  Ein Klassentreffen nach 50 Jahren kann eine sehr starke Erfahrung sein. Es kann ein breites Spektrum an Emotionen hervorrufen, von Nostalgie und Freude bis hin zu Traurigkeit und Bedauern. 

B. ist jetzt auch zu einem Abiturstreffen eingeladen worden, hat sie mir erzählt. Wir haben dann über die gemischten Gefühle angesichts der Einladung gesprochen: Die Sehnsüchte und Enttäuschungen der Jugend, die Befürchtungen und Hoffnungen, die mit einer Konfrontation mit der Vergangenheit verbunden sind. Ich hatte letztes Jahr selbst die Gelegenheit, an einem solchen Treffen teilzunehmen, es hat sich gelohnt und ich fand es sehr gut, dass einige die Initiative ergriffen hatten, so etwas zu organisieren.

 Schon mit der Einladung zum Klassentreffen beginnen Suchprozesse: Werde ich wiedererleben, was ich kenne, mich in meinem Selbstbild bestätigt oder verunsichert fühlen, werde ich in meiner damaligen Sicht von Beziehungen bestätigt oder werde ich mit früherem Selbstbetrug konfrontiert, werde ich als jemand angesprochen, der ich nicht sein möchte? Kann eine frühere Nähe wiederhergestellt werden, die mit dem Ende der Schulzeit verlorengegangen war? Wie geht es mir mit der Konfrontation mit meinem früheren Ich, das in der Begegnung mit den anderen angesprochen wird und dann in mir selbst zu rumoren beginnt? 

Beim 20 oder 30jährigen Abiturstreffen wird jemand, der schon im Erwachsenenleben einen sicheren Platz gefunden hat,  plötzlich auf etwas aus der Jugend angesprochen, an was er nicht gerne denkt, und gleitet aus auf der Rutsche in die Vergangenheit, fühlt sich hilflos und sprachlos. 

Vielleicht möchte man auch nicht an eine unangenehme Zeit erinnert werden, in der man unglücklich war und sich in der Klasse unwohl und wenig akzeptiert fühlte. Dieses „Ich“ möchte man weit hinter sich lassen.

Das 50jährige Treffen rahmt das Erwachsenenleben gewissermaßen ein:  Vor 50 Jahren waren alle auf dem Weg ins Erwachsenenleben, mit all den Wünschen an eigene Entwicklung, Partner finden, „etwas werden“,  vielleicht Kinder kriegen, und 50 Jahre später treten sie allmählich von der großen Bühne ab, werden vielfach weniger gebraucht, geben etwas von der Wichtigkeit ab.  Das „Korsett“ der gesellschaftlichen Rollen spielt jetzt eine geringere Rolle, zeitliche Freiräume tun sich auf, die seit der Studienzeit nicht mehr da waren.  Tut es dann gut, etwas von den Lorbeeren des Erwachsenenlebens um sich zu haben –  Titel, Ehrungen, Leistungen –   …oder davon zu sprechen, dass man unbeirrt weiter seinen Beruf ausfüllt, Alter spielt keine Rolle? … oder fühlt es sich besser an, etwas anderes zu machen, sich freizumachen für die Interessen, die im Erwachsenenleben zu kurz kamen? Oder müssen die neuen Aktivitäten wirklich „große Sachen“ sein , aufregende neue Initiativen? Wie auch immer,  70jährige haben oft mehr Zeit für Kontakte, die nicht so von den aktuellen Pflichten geprägt sind, für small talk,  eine gewisse Offenheit, weil sie nicht so von Alltagsaufgaben absorbiert sind.   Kindheit und Jugend kommen uns wieder näher und werden bewusster, und damit können auch nostalgische Stimmungen auftreten, und die Jugend als Zeit, in der wir unseren Platz im Leben finden wollten, wird verklärt. Warum konnte damals manches nicht so sein, wie wir es uns erträumt hatten, und welche Motive haben die anderen bewegt, zu uns zu halten oder sich von uns abzuwenden? 

Die Geschichten, die wir dann über unseren eigenen Weg erzählen können, sind uns wichtig, weil wir uns ja nach wie vor viel bedeuten, auch wenn wir vielleicht in der Gesellschaft – zumal als „alte weisse Männer“ –  an Bedeutung verloren haben. Geschichten, mit denen wir uns unserer Bedeutung vergewissern, auch wenn uns längst klar ist, dass wir nicht so bedeutend sind, wie wir es in der Jugend vielleicht erwartet haben. Es sind auch Geschichten über die Schulzeit , mit denen jeder seine Version des Erlebten mitteilen kann. Es können Anekdoten sein, die die eigene Erinnerung aktivieren – oh, das hatte ich schon vergessen, ja, aber das war wirklich so! Oder es sind Deutungen, die von Mensch zu Mensch damals wie heute sehr unterschiedlich sind. 

Viele freuen sich darauf, alte Freunde wiederzutreffen, in Erinnerungen an gemeinsame Erlebnisse zu schwelgen und zu erfahren, wie sich ihr Leben seit der Schulzeit verändert hat. Sie können aber auch Angst davor haben, Klassenkameraden zu sehen, die vielleicht anders gealtert sind oder andere Lebenserfahrungen haben als sie. Es kann eine Gelegenheit sein, sich mit den Menschen, die unser damaliges Leben geprägt haben, wieder zu treffen und über die gemeinsamen Werte und Erfahrungen nachzudenken. Es kann auch eine Chance sein, von Menschen zu lernen, die einen anderen Lebensweg eingeschlagen haben.  Klassentreffen können ein Gefühl der Gemeinschaft, der Solidarität und des Verständnisses vermitteln und einen Raum bieten, in dem man sich an die Verstorbenen erinnern kann. Man freut sich ein Wiedersehen, hat Angst, beurteilt zu werden oder sich zu blamieren, und hofft, Geheimnisse aus der Vergangenheit zu erfahren, ist neugierig darauf, herauszufinden, wie sich Menschen seit der Schulzeit verändert haben, wie ihr Leben heute aussieht. Eine Erfahrung, die viele Emotionen hervorruft und einlädt, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen und mehr übereinander zu erfahren.